Earth Jurisprudence, Wild Law, und die Globale Bewegung für Rechte der Natur

von Jess Tyrrell, Wild Law Institute, Cape Town

Inmitten eines tiefgreifenden globalen Paradigmenwechsels in der Rechtswissenschaft erweisen sich die Bewegungen Earth Jurisprudence, Wild Law und Rights of Nature (RoN) als transformative Kräfte, die traditionelle anthropozentrische Sichtweisen in Frage stellen. Diese Bewegung, die auf visionären Ideen von Persönlichkeiten wie Christopher Stone, Thomas Berry und Cormac Cullinan beruht, setzt sich dafür ein, die Natur nicht mehr als bloße Ressource zu betrachten, sondern Ökosystemen und ihren vielfältigen Mitgliedern eine eigene Rechtspersönlichkeit zu verleihen.

Visionäre und Paradigmenbrüche

Christopher Stone

Christopher Stones bahnbrechender Vorschlag aus dem Jahr 1972 legte den Grundstein für die Rechte der Natur-Bewegung, die heute die Universal Declaration of the Rights of Mother Earth, die Global Alliance for Rights of Nature und das Harmony with Nature-Programm der Vereinten Nationen umfasst. Stones Vision sah vor, die Zusprechung von Rechten auf Elemente der natürlichen Umwelt wie Wälder, Ozeane und Flüsse auszuweiten. Sein Vorschlag, den er in seinem Text "Should Trees Have Standing? Toward Legal Rights for Natural Objects" darlegte, sah eine rechtliche Vertretung für diese natürlichen Objekte vor – ähnlich der Rechtspraxis der Vormundschaft für Personen, die nicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Dieser visionäre Ansatz bildete die Grundlage für die breitere Rechte der Natur-Bewegung, Earth Jurisprudence und Wild Law, und beeinflusste die weltweite Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt mit eigenen Rechten.

Thomas Berry und die Earth Jurisprudence

Thomas Berrys Konzept der Earth Jurisprudence, die die Anerkennung von Rechte der Natur einschließt, fügt dieser Transformation eine weitere Ebene hinzu. Berry vertritt die Ansicht, dass die wichtigste Aufgabe des Jahrhunderts darin besteht, von der Ausbeutung des Planeten zu einer respektvollen Beziehung zwischen Mensch und Erde überzugehen, die den inhärenten Wert und die Rechte jedes Mitglieds der Erdgemeinschaft anerkennt. Berry stellt sich das ‚Great Work‘ als eine bewusste und radikale Umgestaltung unserer Beziehung zum lebenden Planeten vor, die unsere Herzen und unseren Verstand von der vorherrschenden industriellen Denkweise befreien sollte. Dieser Wandel beinhaltet, Vielfalt nicht mehr als Bedrohung zu empfinden, sondern sich mit den verschiedenen Elementen der Erdgemeinschaft solidarisch zu zeigen.

Berry unterstreicht die dauerhafte erdzentrierte Perspektive indigener und traditioneller Gemeinschaften und betonte die Notwendigkeit, ihre Ethik, Gewohnheitsrechte und ihre aus den Gesetzen von Mutter Erde abgeleiteten Regierungssysteme zu integrieren.

Cormac Cullinan und Wild Law

Die von Cormac Cullinan entwickelte Idee von ‚Wild Law‘ bietet eine ganzheitliche Herangehensweise an Recht und Governance, die ökologische Prinzipien miteinander verwebt. Er betrachtet alles Leben als in einem komplizierten Netz miteinander verbunden und plädiert für eine tiefgreifende Neubewertung der vorherrschenden Rechts- und Verwaltungssysteme, die in einer Earth Jurisprudence wurzeln. Dieser Wandel ist von entscheidender Bedeutung, um die Intaktheit und das Wohlergehen des Planeten zu sichern und von einem Paradigma abzuweichen, das die Natur in erster Linie als Ressource zum Nutzen des Menschen betrachtet, eine Denkweise, auf die aktuelle Umweltkrisen zurückzuführen sind. Wild Law drängt auf eine Neubewertung bestehender Rechts- und Governance-Philosophien und fördert den Übergang von einer anthropozentrischen zu einer ökozentrischen Perspektive, die den der Natur innewohnenden Wert jenseits des menschlichen Nutzens anerkennt.

Wild Law und Earth Jurisprudence werden oft synonym verwendet: Während Wild Law jedoch die Gesetze bezeichnet, die aus diesem ganzheitlichen Ansatz folgen, stellt Earth Jurisprudence die zugrundeliegende Philosophie dar. Ein gemeinsames Kernprinzip ist die Begründung einer Rechtspersönlichkeit für alle Elemente der Natur, die dieser handfeste und vor Gericht einklagbare Rechte gewährt. Durch die Förderung lokaler, partizipatorischer Regierungsführung und mit Rückgriff auf vernachlässigte traditionelle Normen zielt Wild Law darauf ab, diese Konzepte zu grundlegenden Rechtsprinzipien zu verdichten, die von Gerichten akzeptiert und in Gesetzen verankert werden.

Wild Law stellt bei der Entscheidungsfindung das Wohlergehen der Erde in den Vordergrund und argumentiert, dass das Umweltrecht ohne diesen Paradigmenwechsel bestehende Probleme nur ‚verwalten‘ kann, ohne sie grundlegend zu lösen.

Cormac McCullinan verfasste die Universal Declaration of the Rights of Mother Earth und ist einer der Gründer der Global Alliance for the Rights of Nature.

 

Abkehr vom Anthropozentrismus und Mängel der aktuellen Rechtsrahmen

Die RdN-Bewegung stellt eine bedeutende Abkehr von anthropozentrischen Sichtweisen dar, die in einem kolonialen Erbe wurzeln. Earth Jurisprudence und Wild Law stellen dieses Narrativ in Frage, indem sie den intrinsischen Wert der Natur anerkennen und für die Rechtspersönlichkeit von Ökosystemen, Flüssen, Bergen und allen Wesen, die zur ökologischen Gesundheit beitragen, eintreten. Die derzeitige sozio-ökologische Krise, gekennzeichnet durch Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt und Umweltzerstörung, verdeutlicht die Unzulänglichkeiten des bestehenden Rechtsrahmens.

Herkömmliche Systeme räumen kurzfristigen wirtschaftlichen Gewinnen oft Vorrang vor langfristiger ökologischer Nachhaltigkeit ein. Earth Jurisprudence und Wild Law bieten Alternativen, die die Verflechtung menschlicher Gesellschaften mit der natürlichen Welt hervorheben und jenes koloniale Vermächtnis in Frage stellen, das der Ausbeutung Vorrang vor der Erhaltung gab.

Rechte der Natur auf der globalen Bühne

Auf der ganzen Welt erkennen Länder an, dass es notwendig ist, der Natur Rechte zu gewähren. Ecuador wurde 2008 zum Vorreiter, indem es die Rechte der Natur in seiner Verfassung verankerte und sein Verfassungsgericht ermächtigte, Projekte zu stoppen, die die Rechte der Natur verletzen. Die Grundsätze des Wild Law finden weltweit Widerhall und beeinflussen internationale Abkommen wie das Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, das von fast 200 Ländern unterzeichnet wurde. DerEco-Jurisprudence Monitordokumentiert 468 RdN-Initiativen in 29 Ländern, was einen grundlegenden Wandel hin zur Anerkennung von RdN signalisiert. Es ist jedoch wichtig festzustellen, dass RdN, welche in Umweltgesetzen wurzeln, eine tiefgreifendere Überarbeitung der Rechtsontologie erfordern, um neokoloniale Praktiken und westliche Eigentumsverhältnisse zu adressieren.

Der Einbezug indigener Weisheit in die Earth Jurisprudence

Im Mittelpunkt der RdN-Bewegung steht die Anerkennung der im indigenen Wissen verankerten Weisheit. Indigene Völker pflegen nachhaltige Beziehungen zu ihrer Umwelt und betrachten die Natur als eine lebendige Einheit mit inhärentem Wert.

Earth Jurisprudence und Wild Law erkennen an, wie wichtig es ist, die Sichtweisen indigener Völker zu integrieren, ihr traditionelles ökologisches Wissen zu würdigen und ihre Stimmen in die Gestaltung des rechtlichen Rahmens einzubeziehen.

Verschiedene Länder haben die Prinzipien von Earth Jurisprudence und Wild Law in ihren Rechtsrahmen aufgenommen. Dazu gehören die Anerkennung natürlicher Einheiten als Rechtssubjekte, die Berufung auf indigenes Wissen bei Umweltentscheidungen und die Kodifizierung von Gewohnheitsrecht zum Schutz heiliger Naturstätten.

  • Neuseeland - Der  Te Urewera Act (2014) erkennt den Urewera Forest als "Rechtssubjekt" mit Rechten an und reflektiert den Glauben der indigenen Maori, dass Elemente der Natur lebendige Wesen sind. Dieses Gesetz geht somit auf die Weisheit der Maori zurück und erkennt die Verbundenheit von Mensch und Natur an.
  • Ecuador - Die Verfassung von 2008 erkennt die RdN an und ist stark von indigenen Philosophien beeinflusst. Das Konzept Sumak Kawsay oder Buen Vivir betont das Leben in Harmonie mit der Natur und spiegelt indigene Werte wider, die das Wohlergehen der Ökosysteme in den Vordergrund stellen.
  • Vereinigte Staaten - Der Widerstand des Standing Rock Sioux Tribe gegen die Dakota Access Pipeline gründet sich auf indigenem Wissen. Der Stamm argumentiert, die Pipeline bedrohe seine Wasserquelle und verletze seine heilige Verbindung zum Land. Hier werden indigene Perspektiven in umweltaktivistische Zusammenhänge eingebunden.
  • Australien - Die auf traditionellem ökologischem Wissen beruhenden Praktiken der australischen Ureinwohner:innen zur Brandbekämpfung finden zunehmend Anerkennung für ihre Wirksamkeit bei der Verhütung von Waldbränden und der Erhaltung der Artenvielfalt. Diese Praktiken zeigen, wie wichtig indigenes Wissen für ein nachhaltiges Umweltmanagement ist.
  • Kanada – Im Delgamuukw case in Kanada hat die Gitxsan Nation ihre Landrechte auf der Grundlage ihrer mündlichen Traditionen und kulturellen Praktiken geltend gemacht. In diesem Fall trägt die rechtliche Berücksichtigung mündlicher indigener Überlieferungen dazu bei, indigene Weisheit bei Kämpfen um Landrechte einzubeziehen.
  • Indien - Gerichte haben sich auf die Doktrin der "parent of the nation" berufen, um "Mutter Natur" zu einem Lebewesen mit Rechten zu erklären. Dabei zeigt sich ein diverses globales Engagement für Earth Jurisprudence und Wild Law.
  • Benin - Das Benin Sacred Forest Law (2012) erkennt heilige Wälder und Stätten rechtlich an, verwaltet sie nachhaltig und schützt sie. Dieses Gesetz, das auf die Lobbyarbeit der Zivilgesellschaft und Communities zurückgeht, ist ein Präzedenzfall für die Anerkennung heiliger Naturstätten in Afrika.
  • Uganda - Die Buliisa District Council Ordinance (2020) kodifiziert das Gewohnheitsrecht des Bagungu-Volkes und schützt heilige Naturstätten im angestammten Gebiet der Bagungu. Diese Gesetzgebung berücksichtigt die Grundsätze der Earth Jurisprudence und indigenes Wissen, um Ökosysteme zu erhalten und die RdN zu schützen.

Anerkennung von Eigenwerten für eine nachhaltige Zukunft

Das wachsende Feld der Earth Jurisprudence, des Wild Law und der globalen RdN-Bewegung geht über bestehende Umweltgesetze hinaus und steht für einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der Gesetzgebung. Die Anerkennung von Natur als inhärent wertvoll und als mit Rechten ausgestattetes Subjekt ist entscheidend für die Bewältigung der komplexen sozio-ökologischen Krise. Sie erfordert, dass die Menschen ihren Platz als Teil eines umfassenderen ökologischen Systems anerkennen. Ein solcher Prozess hat das Potential, neue Governance- und Entscheidungsfindungsmodelle anzustoßen, die dem Wohlergehen der Ökosysteme Vorrang vor kurzfristigem Profit und Wirtschaftswachstum einräumen.

Von der Anerkennung einer Rechtspersönlichkeit der Natur über die Einbeziehung indigener Weisheiten bis hin zur Infragestellung anthropozentrischer Sichtweisen erkennen immer mehr Länder die Dringlichkeit, menschliche Aktivitäten mit der natürlichen Welt in Einklang zu bringen.

Die transformative Kraft dieser Bewegungen liegt in ihrer Fähigkeit, Rechtssysteme umzugestalten, ökologisches Bewusstsein zu fördern und verschiedene Perspektiven für das Wohlergehen unseres Planeten und all seiner Bewohner:innen zu integrieren.

Rechte der Natur gehen über die bestehenden Umweltgesetze hinaus, erfordern ein grundlegendes Umdenken in den Beziehungen zwischen Mensch und Natur und ebnen den Weg für eine nachhaltigere, in Verbundenheit gestaltete Zukunft.

 

Jess Tyrrell ist Operations Officer am Wild Law Institute. Ihre Leidenschaft gilt dem Zusammenspiel zwischen Gemeinwohl und Umweltschutz. Mit einem Fokus auf Inklusivität unterstützt sie aktiv Programme zur Förderung des Umweltbewusstseins und der Eigenverantwortung in marginalisierten südafrikanischen Gemeinden.

Aus dem Englischen übersetzt von Imke Horstmannshoff.

 

Links & Literatur