Das Mar Menor: Europas erstes Ökosystem mit ‘Personenstatus’

von Eduardo Salazar-Ortuño & Teresa Vicente-Giménez

Mit der Anerkennung der spanischen Salzlagune Mar Menor als Rechtsperson haben die ‘Rechte der Natur’ im Jahr 2022 in Europa Einzug gehalten – doch das erst nach tiefgreifenden ökologischen Schädigungen des Gewässers. Dr. Eduardo Salazar-Ortuño und Prof. Teresa Vicente-Giménez, Rechtswissenschaftler:innen an der Universität Murcia, waren maßgeblich an diesem Prozess beteiligt. Sie berichten über die Geschichte dieses besonderen Ökosystems und seinen Weg zur Rechtssubjektivität.

Mit einer Fläche von 135 km2 und einer maximalen Tiefe von 7 Metern ist das Mar Menor im Osten Spaniens die größte salzhaltige Küstenlagune der europäischen Mittelmeerregion. Darin befinden sich fünf Inseln vulkanischen Ursprungs. Es handelt sich um ein marines Ökosystem, das vom Mittelmeer durch La Manga, einen 22 km langen Sandstreifen, getrennt ist.

Diese relative Isolierung vom Mittelmeer, die geringen Niederschläge und die hohen Temperaturen führen zu einem Salzgehalt, der deutlich höher ist als der des Mittelmeers. In Verbindung mit den extremen Temperaturen (im Sommer sehr viel heißer und im Winter deutlich kälter) ließen die variierende Dichte und Salzgehalt nur bestimmte Pflanzen- und Tierarten gedeihen, die sich an diese extremen und anspruchsvollen Bedingungen anpassen konnten. Die Gewässer des Mar Menor waren bis vor relativ kurzer Zeit oligotroph, d.h. nährstoff- und primärproduktionsarm, und der Meeresboden war größtenteils vegetationslos, was die Transparenz des Wassers zu einem seiner bemerkenswertesten Merkmale machte.

Ökologische, kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung

Das Mar Menor ist aufgrund der Lebensräume und Arten, die es beherbergt, von großer ökologischer Bedeutung. Darüber hinaus hat es als Feuchtgebiet und Lebensraum für wichtige Wasservögel sowie als Ökosystem einer mediterranen Küstenlagune - mit all der damit verbundenen Komplexität - einen ökologischen Wert, der durch verschiedene gesetzliche Schutzmaßnahmen anerkannt wird (siehe unten).

Die Küstenlagune des Mar Menor ist sowohl an der Oberfläche als auch unterirdisch mit dem als Campo de Cartagena bekannten Einzugsgebiet verbunden, einer dreiecksförmigen Ebene von 1250 km2, die sich über mehrere sogenannte Grundwasserleiter (unterirdische Gesteinskörper, die Grundwasser leiten) erstreckt.

Daher wirken sich die im Einzugsgebiet durchgeführten Aktivitäten direkt auf das Ökosystem der Lagune aus: Diese dient als Auffangbecken für den Oberflächenabfluss aus dem Campo de Cartagena und steht in Austausch mit den Grundwasserleitern.

Darüber hinaus ist das Mar Menor ein sehr wichtiges Element für die regionale Identität der Provinz Murcia – nicht nur wegen seiner ökologischen Eigenschaften, sondern auch in Bezug auf Landschaft, Geschichte, Kultur, Tourismus, Fischerei, Sport- und Freizeitaktivitäten sowie regionalem Erbe. Dies hat zu einer beträchtlichen wirtschaftlichen Bedeutung in Tourismus und Kleinfischerei geführt, von der mehr als 100 Familien abhängig sind, und untermauert die starke emotionale Bindung der Einwohner:innen Murcias und ihrer Besucher:innen an die Lagune.

Historische und aktuelle Umweltschädigungen

Verschiedene menschliche Aktivitäten haben die Landschaft des Mar Menor in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend gewandelt und die Meeresflora und -fauna verändert, was auf mehrere "historische Ursachen" zurückzuführen ist. Zu nennen ist hier die Ausbaggerung und Verbreiterung des Estacio-Kanals, der das Mar Menor mit dem Mittelmeer verbindet. Darüber hinaus gehören auch die übermäßige Bauaktivität in der Umgebung dazu, sowie saisonale Bevölkerungsschwankungen, die zu vereinzelten Abwassereinleitungen führen, die zunehmende Ausbreitung von Jachthäfen, die Anlage künstlicher Strände, und Rückstände aus dem Bergbau, die nach Regenfällen aus den Bergen von Cartagena und La Unión in die Lagune gelangen. Gleichzeitig hat ein verstärkter Wasseraustausch zwischen dem Mar Menor und dem Mittelmeer erheblich zur Angleichung der Bedingungen beider Meeren beigetragen. Infolgedessen begannen sich Arten im Mar Menor anzusiedeln, die sich dort zuvor nicht hatten etablieren können.

Die versprochene Bereitstellung von Wasser aus der Umleitung durch den Tajo Segura-Kanal und mit Unterstützung durch die zuständigen Behörden wurde die landwirtschaftliche Nutzung im Einzugsgebiet des Campo de Cartagena radikal umgestellt. Dies hat eine entscheidende und wichtigste Rolle als "aktuelle Ursache" für die Verschlechterung des Mar Menor gespielt: Schuld ist der Eintrag chemischer Substanzen, die aus dem massiven Einsatz von Behandlungen in der intensiven Landwirtschaft resultieren (Düngemittel, Pestizide usw.), die die traditionelle Regenfeldbauweise fast vollständig ersetzt hat.

Dieses Modell der intensiven Landwirtschaft hat wiederum die Topographie, die den Oberflächenabfluss bestimmt, verändert und damit die Bodenerosion beschleunigt und die Verschleppung von landwirtschaftlichen Rückständen in die Lagune verstärkt.

Die täglich in das Mar Menor eingeleiteten Tonnen von Nitraten haben zu einer unverhältnismäßigen und anormalen Entwicklung des Phytoplanktons geführt, was eine Dunkelfärbung des Wassers zur Folge hat. Diese "eutrophe Krise", die seit dem Sommer 2015 zu beobachten ist, hat das Gleichgewicht des natürlichen Systems des Mar Menor so stark gestört, dass sein Wasser sich von oligotroph (geringe Primärproduktion, wenig Nährstoffe) zu eutroph (hohe Primärproduktion, viele Nährstoffe) entwickelt hat. Dies hat zu einer Störung der bisherigen Selbstregulierungsmechanismen des Mar Menor geführt.

Im Jahr 2016 verhinderte diese Mikroalgenblüte auch die Photosynthese der Wasserpflanzen am Meeresboden und führte zum Verschwinden von 85 % der Seegraswiesen. Auch in den Jahren 2019 und 2021 verursachte die starke Eutrophierung das Sterben von Tonnen von Fischen, Krustentieren und anderen Lebensformen.

Dies verdeutlicht sowohl den "unhaltbaren Stress" oder Zusammenbruch des Ökosystems, als auch die katastrophalen Schäden, die verursacht wurden.

Die wirtschaftlichen Folgen dieses ökologischen Problems in der Region sind kolossal: Nach Angaben der spanischen Zentralbank sind die Immobilienpreise um 45 % gefallen, was einem Verlust von 4,5 Milliarden Euro entspricht; der Tourismus ist an andere Mittelmeerküsten abgewandert, was zur Schließung zahlreicher Geschäfte und zum Verlust von Arbeitsplätzen geführt hat; der Fischereisektor hat ebenfalls gelitten, aber vor allem hat die Verschmutzung des Mar Menor die Lebensqualität der Menschen beeinträchtigt, die in der Region leben oder dort Urlaub machen. Der ökologische Zusammenbruch dieser einzigartigen Landschaft, die für Wohlbefinden und Lebensunterhalt sorgte, führte bei vielen zu einer Art "Solastalgie": ein emotionales Leiden – Angst, mentaler oder existenzieller Stress –, das durch Umweltzerstörungen verursacht wird.

Schutzmaßnahmen und Umweltrecht

Trotz der gesetzlichen Anerkennung von Schutzmaßnahmen für dieses einzigartige Ökosystem seit 1990 – als geschützter Naturraum auf internationaler (RAMSAR, ZEPIM), europäischer (Natura 2000 Netzwerk) und regionaler Ebene (teilweise Regionalpark, geschützte Landschaft), sowie global als Wildlife Protection Area – verschlechtert sich der Zustand des Mar Menor unaufhaltsam.

Dieses Versagen des präventiven Umweltrechts ist auf die Untätigkeit der Verwaltungen auf allen Ebenen – staatlich, regional und lokal – in Management, Kontrolle und Prüfung des Umweltschutzes zurückzuführen.

Es hängt aber auch mit einer Reihe von Verordnungen zusammen, die eine umweltschädliche Entwicklung der Städte, der Landwirtschaft und der Viehzucht in der Umgebung begünstigt haben; mit der Aufhebung einer spezifischen Gesetzgebung für die Lagune (Gesetz 3/1987 vom 23. April über den Schutz und die Harmonisierung der Nutzung des Mar Menor), sowie mit der geringen Wirksamkeit von Vorschriften im Rahmen anthropozentrischer Politik und Rechtssprechung.

Ein reaktives Umweltrecht, das versucht, die Haftung nach dem Verursacherprinzip zuzuweisen, indem es Umweltstraftaten, Verwaltungssanktionen und Umwelthaftungsmechanismen einsetzt, benötigt zu lange für endgültige Entscheidungsprozesse. In Folge des Massensterbens von Flora und Fauna wurden spezifische gesetzliche Instrumente zum Schutz und zur Wiederherstellung des Mar Menor (Gesetz 3/2020 vom 27. Juli) verabschiedet.

Trotz dieser und trotz der Pläne im Zusammenhang mit dem Natura-2000-Netzwerk (Integrierter Managementplan für die Schutzgebiete des Mar Menor, Dekret 259/2019 vom 10. Oktober), griffen die Bürger:innen, die sich bereits seit 2016 in zahlreichen Kollektiven zum Schutz der Lagune organisiert hatten, den Vorschlag der Rechtsberatung der Juristischen Fakultät der Universität Murcia auf und initiierten ein Volksbegehren mit dem Ziel, die Rechtspersönlichkeit des Mar Menor und seines Einzugsgebiets anzuerkennen und ihm eigene Rechte zu verleihen. Dieser Vorschlag war bereits der Regionalversammlung der Autonomen Gemeinschaft Murcia durch eine regionale Gesetzesinitiative des Stadtrats von Los Alcázares vorgelegt worden, scheiterte jedoch am Unverständnis, den Ausreden und mangelnder Kompetenz der Rechtsexpert:innen der genannten Institution.

Eine Volksgesetzgebungsinitiative: Das Mar Menor wird Rechtsperson

Ein beispielhafter Prozess der Sammlung von 500.000 Unterschriften für eine Legislative Volksinitiative (PLI) begann – wie in der spanischen Verfassung als ultimatives Instrument der direkten Demokratie verankert. Zunächst registrierte eine Promotionskommission die PLI im Juli 2020. Nach der Ausarbeitung des endgültigen Textes, von Ende Oktober 2020, als die versiegelten Formulare vom Zentralen Wahlvorstand eingesammelt wurden, bis zu dem Zeitpunkt, an dem 639.824 Unterschriften am 27. Oktober 2021 im Zentralbüro des Wahlvorstandes abgegeben wurden, wuchs die Bürger:innenbewegung um die PLI in erstaunlichem Maße. Sie wurde auf den Plätzen und Straßen der Region Murcia und darüber hinaus begeistert aufgenommen, nachdem sie im August 2021 im Fischsterben ihren Höhepunkt erreicht hatte und die Frustration immer deutlicher zutage getreten war.

All dies geschah ohne eine starke Organisation, ohne finanzielle Mittel und allein durch die Präsenz von Freiwilligen, die mitten in der COVID-19-Pandemie auf die Straße gingen.

Die Unterschriftensammlung wurde innerhalb des durch das Organgesetz 3/1984 vom 26. März festgelegten Zeitrahmens durchgeführt, wobei eine der beiden gewährten Verlängerungen genutzt wurde.

Nachdem die Unterschriften eingereicht und geprüft worden waren, wurde die PLI dem Abgeordnetenhaus vorgelegt, wo sie am 15. März 2022 von ihrem Initiator in der Kommission für den ökologischen Übergang verteidigt wurde, nach einem positiven Bericht vonseiten der Regierung. Am 5. April nahm das Plenum des Abgeordnetenhauses den PLI mit 265 Ja-Stimmen an – im Vergleich zu den wenigen Gesetzesinitiativen, die bisher vorgelegt wurden, eine ungewöhnlich starke Mehrheit in dieser Legislaturperiode. Nachdem die PLI den Senat passiert hat, ist er nun der Präzedenzfall für das Gesetz 19/2022 vom 30. September zur Anerkennung der Rechtspersönlichkeit des Mar Menor und seines Einzugsgebietes.

Die Verleihung der Rechtspersönlichkeit an das Mar Menor und sein Einzugsgebiet bedeutet, dass es "rechtsfähig" und "handlungsfähig" wird, das heißt, eine Einheit innerhalb des Rechtssystems darstellt. Was bereits im 19. Jahrhundert für Handelsgesellschaften, Stiftungen und Vereine anerkannt wurde, wird nun auf ein einzigartiges und bedrohtes Ökosystem ausgedehnt: ein Rechtssubjekt zu werden. Dieser Titel verleiht dem Mar Menor und seinem Einzugsgebiet nicht nur Rechte, sondern auch die Möglichkeit, diese Rechte auszuüben, was als "Rechtsfähigkeit" bezeichnet wird. So wie für Minderjährige oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen, die ihre eigenen Rechte und ihre Rechtsfähigkeit haben und einen Vormund brauchen, der sie vertritt und verteidigt, gilt dies auch für dieses Ökosystem.

Das Mar Menor ist somit das erste Ökosystem mit Rechten in Europa und folgt damit einem Trend, der die Rechte der Natur in Ländern wie Ecuador, Bolivien, Kolumbien, Neuseeland und Kanada eingeführt hat.

Folgen und Ausblick

Im September 2023 rief ein Gericht in Cartagena (Region Murcia), das Umweltverschmutzungsdelikte in der Küstenlagune untersuchte, bestimmte Verwaltungen und Nichtregierungsorganisationen dazu auf, sich im Namen des Mar Menor und seines Beckens auf der Grundlage von Artikel 6 des Gesetzes 19/2022 an den strafrechtlichen Ermittlungen zu beteiligen. Artikel 6 erlaubt es jeder Person, die Interessen des Mar Menor und seines Beckens vor den Behörden und Gerichten zu vertreten und in seinem Namen zu handeln. Gegenwärtig sind fünf Nichtregierungsorganisationen und drei Gemeinden an diesen Verfahren beteiligt, die drei landwirtschaftliche Unternehmen der Verschmutzung der Lagune beschuldigen und eine Entschädigung für die Wiederherstellung der entstandenen Schäden am Mar Menor fordern.

Das Gesetz, das dem Mar Menor Rechte gewährt, wird derzeit durch eine Verordnung ausgearbeitet, die kurz vor der Genehmigung durch die Landesregierung steht. Diese Verordnung wird im Detail regeln, wie die Governance-Institutionen und -Mechanismen um die juristische Person des Mar Menor und seines Einzugsgebiets, die in Artikel 3 des Gesetzes festgelegt sind, gestaltet werden. Sobald die Verordnung in Kraft getreten ist, wird ein wichtiger Prozess der Öffentlichkeitsbeteiligung eingeleitet, an dem die zuständigen Verwaltungen und die Mitglieder der betroffenen Zivilgesellschaft im Rahmen dreier Kommissionen beteiligt werden: in der Repräsentant:innenkommission, der Kommission der Hüter:innen und im wissenschaftlichen Ausschuss.

 

Eduardo Salazar Ortuño ist Jurist für Umweltrecht im öffentlichen Interesse und lehrt Verwaltungsrecht an der spanischen Universität Murcia. Er ist Mitglied der Environmental Law Worldwide Alliance und Experte für die Aarhus-Konvention, die 1998 von der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa unterzeichnet wurde, um Bürger:innen und NGOs in die Lage zu versetzen, die Umwelt durch Zugang zu Informationen, Öffentlichkeitsbeteiligung und Zugang zu Gerichten zu schützen. Website: www.ecojusticia.org

María Teresa Vicente Giménez ist Professorin für Rechtsphilosophie und leitet den Lehrstuhl für Menschenrechte und Rechte der Natur an der spanischen Universidad de Murcia. Ihre Forschungsschwerpunkte sind ökologische Gerechtigkeit und die Rechte der Natur, Rechtsfeminismus, Gerechtigkeit und soziale Rechte sowie die neuen Paradigmen der internationalen Strafjustiz. Sie forschte zur Gesetzgebung um den Atrato-Fluss in Kolumbien, den Whanganui-Fluss in Neuseeland und initiierte die Initiative zur Volksgesetzgebung des Mar Menor (ILP) für das Mar Menor. Sie ist Organisatorin der "Earth Assembly" im April 2024 in New York.

 

Links & Literatur