Die Rechte der Mutter Erde in Bolivien: Fortschritte und Herausforderungen

von Paola Villavicencio-Calzadilla

"Mutter Erde ist ein dynamisches, lebendiges System, das eine unteilbare Gemeinschaft aller lebenden Systeme und Organismen umfasst, die miteinander verbunden, voneinander abhängig und komplementär sind und ein gemeinsames Schicksal teilen." (Gesetz über die Rechte von Mutter Erde, Artikel 3)

Vor über einem Jahrzehnt erregte Bolivien international Aufsehen, als es bahnbrechende Gesetze verabschiedete, die vorherrschendenParadigmen hinterfragten und die Rechte der Natur oder ‚Mutter Erde‘ anerkannten. Zumindest auf dem Papier bietet dieser rechtliche Paradigmenwechsel einen ambitionierten Rahmen, um den vorherrschenden Extraktivismus - in Bezug auf zum Beispiel fossile Brennstoffe, Mineralien und landwirtschaftliche Nahrungsmittel -, der die Mutter Erde bedroht, in Frage zu stellen und die Vorstellung zu überwinden, dass die Natur eine Ressource ist, die ausgebeutet werden sollte. Mit dieser Anerkennung ist Bolivien, eines der Länder mit der größten biologischen Vielfalt der Welt, zu einem globalen Vorreiter der Bewegung für die Rechte der Natur geworden. Nach Ecuador ist es das zweite Land weltweit, das die Rechte von Mutter Erde auf nationaler Ebene anerkennt.

Trotz seiner Tragweite zeigt der bolivianische Fall, dass die Verabschiedung von Gesetzen, die speziell die Rechte der Natur anerkennen, zwar ein entscheidender Schritt zum Schutz der Mutter Erde ist, aber nur einer der ersten Schritte, die notwendig sind, um tiefgreifende sozioökologische Veränderungen herbeizuführen.

Mutter Erde ist nicht nur heilig, sie hat auch Rechte

Im Dezember 2010 verabschiedete die bolivianische Gesetzgebende Versammlung das ‚Gesetz über die Rechte der Mutter Erde‘, das erste Gesetz des Landes, das die Mutter Erde nicht nur als heiliges Wesen (wie bereits in der Verfassung des Landes verankert), sondern auch als ein Wesen mit Rechten anerkennt. Die Verabschiedung dieses Gesetzes geht zumindest teilweise auf einen Vorschlag zurück, der von einer Koalition indigener und bäuerlicher Organisationen des Landes - dem so genannten ‚Pakt der Einheit‘ - ausgearbeitet wurde und darauf abzielte, die ausbeuterischen und unterdrückerischen Praktiken im Umgang mit der Natur im Land durch die Anerkennung ihrer eigenen Rechte zu verändern. Der Vorschlag dieser Organisationen wurde im Anschluss an die World People’s Conference on Climate Change and the Rights of Mother Earth ausgearbeitet, die einige Monate zuvor in Bolivien stattgefunden hatte und in der ‚Allgemeinen Erklärung über die Rechte von Mutter Erde’ mündete.

Das Gesetz über die Rechte von Mutter Erde erkennt an, dass die Natur sieben spezifische Rechte hat: das Recht auf Leben, das Recht auf die Vielfalt des Lebens, auf Wasser und saubere Luft, auf die Erhaltung ihrer Bestandteile in einem ausgewogenen Verhältnis, auf Schutz vor Verschmutzung und das Recht auf Wiederherstellung. Neben diesen Rechten legt das Gesetz auch die entsprechenden Pflichten von Menschen und Staat fest, einschließlich der gesetzlichen Pflicht und Verantwortung, die Rechte der Natur in ihrem Namen durchzusetzen, indem Verstöße gemeldet und geahndet werden. Außerdem wird mit dem Gesetz zum ersten Mal die Schaffung einer neuen, einzigartigen Institution angeordnet: Eine "Ombudsstelle für Mutter Erde" (Defensoría de la Madre Tierra), um den Schutz und die Durchsetzung der Rechte der Natur zu fördern.

Diese Rechte und Pflichten wurden durch ein umfassenderes Gesetz bekräftigt, das zwei Jahre später verabschiedet wurde: das ‚Rahmengesetz für Mutter Erde und integrale Entwicklung für ein gutes Leben‘ von 2012. Dieses Gesetz zielt darauf ab, das Land weg von einem extraktivistischen und kapitalistischen Modell und hin zu einer alternativen, ganzheitlichen Entwicklung im Einklang mit Mutter Erde zu orientieren.

Mit der Aufnahme der Rechte der Mutter Erde in das Rechtssystem des Landes würde Bolivien über einen neuen Rechtsrahmen verfügen, der auf einer ökozentrischen ‚Gegenerzählung‘ beruht und in indigenen Werten und Konzepten verwurzelt ist, die der anthropozentrischen Ausrichtung der bestehenden Rechte entgegenwirken sollen.

Herausforderungen und Hindernisse bei der Umsetzung der Rechte der Natur

Obwohl das Land bei der Anerkennung der Rechte der Natur eine Vorreiterrolle spielt, ist die tatsächliche Umsetzung dieser Rechte in Bolivien immer noch eine Herausforderung. Das Engagement für den Schutz der Rechte der Natur kollidiert mit der Entwicklungsagenda der nachfolgenden Regierungen, die sich auf die Beibehaltung und sogar die Intensivierung des umweltschädlichen, extraktivistischen Paradigmas konzentrieren.

Neben gelockerten Umweltstandards hat die Regierung in den letzten Jahren Gesetze und politische Maßnahmen verabschiedet, die Bergbauaktivitäten, große Wasserkraftprojekte sowie die Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen fördern – und das in Schutzgebieten mit großer biologischer Vielfalt, die traditionell von indigenen Völkern bewohnt werden, wie dem Amazonas und dem Chaco. Darüber hinaus erlaubt es die Ausweitung landwirtschaftlicher Aktivitäten, insbesondere für den Anbau von Soja und Zucker, für die Viehzucht und den Export sowie für die Produktion von Biokraftstoffen, was Anreize für eine immer stärkere Abholzung und unkontrollierte Brände bietet, die das Amazonasbecken und das einzigartige Ökosystem in der Chiquitanía-Region beeinträchtigen, welche ebenfalls Gebiete indigener Völker sind.

Diese Gesetze und politischen Maßnahmen stehen nicht nur im Widerspruch zu den Rechten von Mutter Erde, sondern tragen auch zur Eskalation von sozioökologischen Konflikten bei, insbesondere zwischen indigenen Völkern und der Regierung.

Der Fall TIPNIS – ein Konflikt um den Bau einer Autobahn, die durch ein sehr artenreiches Schutzgebiet und indigenes Territorium führt – und der Fall Bala-Chepete – ein hydroelektrisches Mega-Staudammprojekt im Amazonasgebiet, das den Madidi-Nationalpark, das Biosphärenreservat Pilon Lajas und das indigene Territorium bedroht - sind einige Beispiele dafür, dass das extraktivistische Modell in der bolivianischen politischen Ökonomie nach wie vor an erster Stelle steht:

Die Praxis bleibt hinter den rhetorischen Versprechungen bezüglich der Rechte von Mutter Erde zurück.

Während die Verwüstungen des Extraktivismus in verschiedenen Teilen des Landes unkontrolliert bleiben, gibt es auch bei der Verteidigung der Rechte von Mutter Erde nur begrenzt Fortschritte. So wurde beispielsweise die ‚Ombudsstelle für Mutter Erde‘, die im Gesetz über die Rechte der Mutter Erde vorgesehen ist und den Schutz der Rechte der Natur fördern soll, bis heute nicht eingerichtet. Außerdem werden in Bolivien gerade erst Klagen zum Schutz der Rechte der Natur eingereicht, und die Justiz hat zaghaft begonnen, darüber Urteile zu sprechen. So entschied ein Agrar-Umweltgericht im Februar 2021 zugunsten von 44 Bäumen, die durch den Bau eines "Fahrzeugkorridors" beeinträchtigt werden würden. Das Gericht ordnete die Aussetzung des Projekts als Vorsichtsmaßnahme an, da es die Rechte von Mutter Erde nicht respektiere. In seiner Entscheidung geht es jedoch nicht auf den Kern der Sache ein und trägt auch nicht dazu bei, die Bedeutung und den Inhalt dieser Rechte zu klären.

Dennoch ist die Entscheidung des Gerichts ein wertvoller erster Schritt in der gerichtlichen Durchsetzung der Rechte von Mutter Erde in Bolivien und könnte in Zukunft zu neuen Aktionen anregen.

Der Weg in die Zukunft

Der Fall Bolivien ist ein Beispiel dafür, dass die Verabschiedung neuer visionärer, ökozentrischer Gesetze, die die Rechte der Natur anerkennen, ein notwendiger, aber nur ein erster Schritt ist und dass weitere Anstrengungen erforderlich sind, um wirkliche Veränderungen in Politik und Praxis zu fördern, insbesondere in Ländern, deren Wirtschaft auf der Ausbeutung der Natur beruht.

Es ist sicherlich schwierig, diese Abhängigkeit von heute auf morgen aufzugeben, aber es gibt Maßnahmen, die für einen Weg dorthin schon jetzt ergriffen werden können: zum Beispiel die Vermeidung der Verabschiedung von regressiven Politiken und Gesetzen, die Umweltschutzmaßnahmen abbauen und die Rechte von Mutter Erde verletzen, oder die Genehmigung von notorisch umweltzerstörerischen Projekten. Da für die Umsetzung der Rechte der Natur Institutionen und Mechanismen erforderlich sind, ist die Einrichtung einer unabhängigen und unparteiischen ‚Ombudsstelle für Mutter Erde‘ mit der Befugnis, die Einhaltung der Rechte der Natur insbesondere in diesen Zusammenhängen zu fördern, eine Notwendigkeit.

Die Rechte und Interessen von Mutter Erde sollten tatsächlich gehört, verteidigt, geschützt und in allen sie betreffenden Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden.

Daher ist der Staat verpflichtet, ein sicheres und förderliches Umfeld zu schaffen, in dem Umweltschützer:innen oder Hüter:innen der Mutter Erde, die sich für den Schutz ihrer Rechte einsetzen, frei von Bedrohungen, Einschüchterung, Kriminalisierung und Gewalt agieren können.

Schließlich sollten für die Justiz – einschließlich Anwält:innen, Staatsanwält:innen und Richter:innen sowie für den öffentlichen und privaten Sektor und die Zivilgesellschaft umfassende Sensibilisierungsmaßnahmen und Schulungen für die Rechte der Natur angeboten werden. Forschung und Lehre zu diesem Thema sollten auf allen Bildungsebenen und in allen Institutionen gefördert werden, um anthropozentrische Vorstellungen von der Natur zu hinterfragen und zu überwinden und die Bildung auf eine Kultur der Achtung und des Schutzes aller Lebensformen auszurichten.


Dr. Paola Villavicencio-Calzadilla ist eine bolivianische Rechtswissenschaftlerin und Beraterin mit mehr als 15 Jahren Berufserfahrung in sozio-rechtlichen Fragen rund um die Klima- und Umweltkrise. Ihre aktuelle Arbeit konzentriert sich auf Klimagerechtigkeit, Energiegerechtigkeit, Klimaprozesse und Rechte der Natur. Sie hat zu diesen Themen zahlreiche Publikationen veröffentlicht und Vorträge gehalten.

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Aus dem Englischen übersetzt von Imke Horstmannshoff.

 

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