Der Fluss als Rechtsperson: Das Beispiel des Whanganui River in Neuseeland

von Klaus Bosselmann und Timothy Williams

Im Jahr 2017 hat Neuseeland als eines der ersten Länder der Welt einem Fluss Rechte verliehen: dem Whanganui River. Wir stellen fünf Möglichkeiten vor, wie die Anerkennung des Flusses als Rechtsperson zur Gestaltung von Recht und Politik beitragen könnte.

In seinem bahnbrechenden Artikel Should Trees Have Standing aus dem Jahr 1972 argumentiert Christopher Stone, dass die derzeitige Zweiteilung der Rechtswelt in Personen und Sachen weder selbstverständlich richtig noch unbedingt wünschenswert ist. Er weist darauf hin, dass beispielsweise Frauen und Sklaven jahrhundertelang nicht in vollem Umfang als Rechtssubjekte anerkannt wurden, und stellte fest, dass sich der Kreis der Rechtssubjekte im Laufe der Zeit allmählich ausweitete. Stone schlägt vor, "Wäldern, Meeren, Flüssen und anderen so genannten 'natürlichen Objekten' in der Umwelt - ja der gesamten natürlichen Umwelt - Rechtsansprüche zuzuerkennen", und nennt mehrere gute Gründe dafür. Schließlich sei das Konzept der Rechtspersönlichkeit so flexibel, dass auch Unternehmen, Schiffe und andere juristische Personen als Rechteinhaber anerkannt werden könnten.

Neuseeland (oder in der Māori-Sprache: ‚Aotearoa‘) war in der Vergangenheit traditionell sehr progressiv, wenn es darum ging, den Geltungsbereich von Rechten und Interessen zu erweitern. Im Jahr 1893 gab es als erstes Land Frauen das Wahlrecht. Im Jahr 1991 erkannte es den Eigenwert von Ökosystemen an, eine entscheidende konzeptionelle Grundlage für die Anerkennung, dass auch nicht-menschliche natürliche Wesen Rechte haben können (siehe Resource Management Act 1991, New Zealand Public Act 1991 No 69, s.7). 1999 war Neuseeland das erste Land, das eine rechtliche Kategorie für nicht-menschliche Hominiden einführte und deren Interessen in den Mittelpunkt stellte (ein "nicht-menschlicher Hominide" wird definiert als "jedes nicht-menschliche Mitglied der Familie der Hominidae, das ein Gorilla, Schimpanse, Bonobo oder Orang-Utan ist"; siehe Animal Welfare Act 1999, New Zealand Public Act 1999 No 142).

Im Jahr 2017 erkannte das neuseeländische Parlament den Whanganui River (Māori: „Te Awa Tupua“) an als 

"unteilbares und lebendiges Ganzes, das den Whanganui-Fluss von den Bergen bis zum Meer umfasst und alle seine physischen und metaphysischen Elemente einschließt".

Der intrinsische Wert und die kulturelle Bedeutung des Flusses wurden anerkannt und es wurde erklärt, dass er "alle Rechte, Pflichten und Verbindlichkeiten einer juristischen Person" hat (Te Awa Tupua Act, New Zealand Public Act 2017 No.7, ss.13 & 14). Bedeutet dies also eine allgemeine Anerkennung der Rechte der Natur in Aotearoa Neuseeland?

Natürlich ist die Rechtslage komplizierter als das. Das Te Awa Tupua-Gesetz muss im größeren Zusammenhang gesehen werden. In Aotearoa Neuseeland wie auch anderswo auf der Welt sind die Rechte der Natur eng mit den Rechten und Interessen indigener Gruppen verknüpft. Die Māori des Whanganui-Flusses haben eine unveräußerliche Verbindung mit und Verantwortung für den Fluss, seine Gesundheit und sein Wohlergehen  - "Ko au te Awa, ko te Awa ko au: Ich bin der Fluss und der Fluss ist ich".

Das Gesetz ist das Ergebnis von Vertragsverhandlungen zwischen der neuseeländischen Regierung (als Vertreterin der britischen Krone) und den Whanganui iwi und hapū (den Māori-Stammesgruppen, die das Gebiet des Whanganui-Flusses bereits Jahrhunderte vor der Ankunft europäischer Siedler:innen bewohnten). Ziel des Gesetzes ist es, dem Vertrag Wirkung zu verleihen und historische Ungerechtigkeiten gegenüber den Māori zu überwinden.

Die Rechtspersönlichkeit des Whanganui-Flusses ist zum Teil ein Mechanismus, der dies erleichtern soll; ein "Nicht-Eigentums"-Modell, das die Regelung trotz der strittigen Frage des rechtlichen Eigentums ermöglicht.

Man kann sich viele potenzielle Rechte am Fluss vorstellen - ein offensichtliches Beispiel wäre das Recht auf einen natürlichen und unverschmutzten Wasserfluss. Die Rechte, die das Gesetz dem Fluss verleiht, sind jedoch gesetzlich begrenzt. Der Fluss kann zwar "alle Rechte, Pflichten und Verbindlichkeiten einer juristischen Person" haben, aber die Rechte, die der Fluss tatsächlich hat, werden nicht nur durch die Natur des Flusses, sondern auch durch die bestehenden Rechte und Interessen anderer eingeschränkt, sowie durch verschiedene andere gesetzliche Regelungen, die darüber entscheiden, was diese Rechte und Interessen sind. Das Gesetz verlangt von den Entscheidungsträger:innen, den neuen Status des Flusses "anzuerkennen und zu garantieren" (‚recognise and provide for‘) oder "besonders zu berücksichtigen" (‚have particular regard to‘), je nachdem, welche gesetzliche Regelung gilt. Diese Art von Formulierungen sind üblich im neuseeländischen Ressourcenmanagementgesetz, das auch weiterhin für Genehmigungsverfahren gilt, die den Fluss betreffen.

In gewisser Hinsicht ist das Gesetz recht konservativ und orthodox. Welche Bedeutung hat nun die Anerkennung des Whanganui-Flusses als juristische Person in Aotearoa Neuseeland wirklich?

Eigentum und Verwaltung

Erstens ist die Methode der Entkopplung von Eigentums- und Verwaltungsfragen innovativ und könnte sich als nützlicher Präzedenzfall erweisen, für Fälle, in denen hartnäckige Streitigkeiten über Eigentumsrechte ein Hindernis für eine gute Entscheidungsfindung darstellen.

Die Abkehr vom menschlichen Eigentum und dem damit verbundenen rechtlichen und gesellschaftlichen Ballast bietet uns die Möglichkeit, unsere Beziehungen zueinander und zum Land selbst neu zu gestalten.

In dem Maße, in dem die intrinsischen Interessen des Flusses gefördert werden, wird sich wahrscheinlich auch unser Verständnis von unseren eigenen Rechten und Pflichten sowie von den Aufgaben und Beschränkungen der öffentlichen Behörden ändern. Diese Möglichkeit des Wandels ist wahrscheinlich am bedeutendsten, wenn es um Ökosysteme von herausragender Bedeutung geht. Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein hartnäckiger Streit über die Eigentumsrechte an einem äußerst bedeutenden Ökosystem zu der Notwendigkeit führen kann, die Eigentumsrechte neu zu gestalten und gleichzeitig die Interessen des Ökosystems selbst zu schützen und zu fördern.

Indigene Weltanschauungen

Zweitens beruht die Rechtspersönlichkeit des Flusses auf der Anerkennung einer Māori-Weltanschauung (‚te ao Māori‘), die die Verflechtung und Wechselbeziehung aller lebenden und nicht lebenden Dinge anerkennt. Te ao Māori erkennt an, dass wir in einer verwandtschaftlichen Beziehung zu unserer Umwelt stehen, und steht damit der Ansicht entgegen, die Umwelt würde lediglich den physischen Kontext liefern, in dem Beziehungen stattfinden. Die Anerkennung des Flusses als Rechtsperson impliziert eine rechtliche Anerkennung dieser verwandtschaftlichen Beziehung.

Auf diese Weise wird auch die Entwicklung des Rechts von einem atomistischen, mechanischen Paradigma zu einem ökologischen Paradigma erleichtert, in dem wir die Bedeutung von Systemen voll anerkennen und akzeptieren, dass unsere rechtlichen Pflichten über die Achtung der Interessen anderer Menschen hinausgehen können.

Ein Lernprozess

Drittens gibt es den lokalen Beratungsprozess, der eingerichtet wurde, um die Interessen des Flusses zu ermitteln und eine Strategie zur Förderung und zum Schutz der Gesundheit des Flusses zu entwickeln. Darin kommen Menschen und Organisationen zusammen, die eine enge Verbindung zum Fluss haben und die gesetzlich verpflichtet sind, gemeinsam zu handeln, um die Gesundheit und das Wohlbefinden des Flusses zu fördern.

Dieser Prozess ist ein unverzichtbares Element des Modells der Rechtspersönlichkeit, wie es in Aotearoa Neuseeland entwickelt wird, auch wenn er sicherlich nicht der einzig mögliche Prozess für ein solches Modell ist. Ob das Gesetz dem Fluss wirklich eine Stimme verleiht, hängt davon ab, ob die Strukturen und Prozesse der Mitbestimmung effektiv funktionieren und ob die Ergebnisse dieser Prozesse respektiert und umgesetzt werden.

Die Rechte des Flusses

Viertens stellt sich die Frage, welche spezifischen Rechte des Flusses von den neuseeländischen Gerichten als Rechtsansprüche anerkannt werden und wie diese durchgesetzt werden können. Die Anerkennung, dass der Fluss einen eigenen intrinsischen Wert und eigene Interessen hat, die durch gesetzliche Rechte geschützt werden können, passt genau in die gängige Rechtstheorie.

Neuseeland ist ein Land des Gewohnheitsrechts, und es scheint, dass die Rechtsmittel des Gewohnheitsrechts, die auf unbefugtem Betreten und Belästigung beruhen, dem Fluss unter entsprechenden Umständen zur Verfügung stehen sollten. Es bleibt abzuwarten, wie spezifische Fragen behandelt werden, wenn sie auftauchen, und es ist hier nicht genug Platz für detaillierte Spekulationen. Ein wichtiges Merkmal von Rechtsansprüchen ist jedoch, dass sie, sobald sie anerkannt sind, über die Grenzen einer gesetzlichen Regelung hinausreichen können.

Trotz der oben erwähnten gesetzlichen Beschränkung der Rechte des Flusses besteht jetzt sicherlich die Möglichkeit, den Status quo zu stören, wenn die Interessen des Flusses auf dem Spiel stehen.

Das menschliche Gesicht des Flusses

Schließlich spielt das Te Pou Tupua office – „das menschliche Gesicht“ des Flusses – eine entscheidende Rolle. Das Te Pou Tupua office besteht aus zwei Personen, die die neuseeländischen Regierung bzw. die Whanganui iwi repräsentieren, und bündelt die oben genannten Themen. Es ist Te Pou Tupua, das für den Fluss sprechen und seine Rechte wo nötig durchsetzen muss. Dabei muss es die ontologischen und normativen Lücken zwischen britischer Krone und Māori sowie zwischen den verschiedenen Elementen der Zivilgesellschaft schließen und gleichzeitig seine Hauptaufgabe, die physische und spirituelle Gesundheit des Flusses zu schützen und zu fördern, im Blick behalten. Diese Arbeit erinnert stark an die Earth Charta mit ihrer Formulierung eines „heiligen Vertrauens“ (‚sacred trust‘) und ihrem Aufruf an Regierungen, Zivilgesellschaften und Wirtschaft, partnerschaftlich zusammenzuarbeiten, um eine nachhaltige globale Gemeinschaft aufzubauen.

Der Fluss ist vielen Gefahren ausgesetzt, und viele Probleme müssen noch gelöst werden. Der Fluss als juristische Person in Aotearoa, Neuseeland, verkörpert jedoch eine spannende Synthese aus ökologischer Rechtsprechung und Instrumenten zur Erzielung einer besseren Umweltverwaltung und praktischer Ergebnisse.

Mit den Worten von Christopher Finlayson, der als Minister für Vertragsverhandlungen die Rechtspersönlichkeit des Flusses in den Siedlungen Tūhoe und Whanganui River und das darauffolgende Te Awa Tupua-Gesetz gefördert hatte:

„Manche Umweltprobleme, mit denen wir im Jahr 2020 konfrontiert sind, lassen uns leicht resignieren. Aber wir haben zwei Möglichkeiten: apokalyptisch werden oder etwas unternehmen. Der Versuch, die Rechte der Natur auf neue Bereiche auszudehnen, könnte eine Lösung sein. Die Erfahrung Neuseelands könnte hier richtungsweisend sein.“


 

Aus dem Englischen übersetzt von Imke Horstmannshoff.

Das englische Original ist die adaptierte Version eines Buchkapitels, und erstmals erschienen in: Sergio Augusto Ribeiro und Vera Lessa Catalao (Hrsg., 2020). Water, Sharing and Peace Culture. International Center on Water and Interdisciplinarity, Brasilia.

 

Klaus Bosselmann ist Rechtsprofessor an der University of Auckland, Neuseeland. Er ist Vorsitzender der Ecological Law and Governance Association (ELGA) und leitete bis vor kurzem das New Zealand Centre for Environmental Law.

 

Links & Literatur

  • Earth Charter, Präambel: https://earthcharter.org/library/the-earth-charter-text
  • Klaus Bosselmann (2017). ThePrincipleofSustainability:TransformingLawandGovernance. New York: Routledge, New York.
  • Klaus Bosselmann & Prue Taylor (2017). EcologicalApproachestoEnvironmentalLaw:ResearchCollection. Edward Elgar Publ.
  • Christopher Finlayson (2020): “Internationally hot, domestically not: New Zealand and the Global Rights of Nature Movement.” NewZealandCentreforGlobalStudies 3. https://nzcgs.org.nz/blog- zoo/item/internationally-hot-domestically-not
  • Katherine Sanders (2018): “‘Beyond Human Ownership’? Property, Power and Legal Personality for Nature in Aotearoa New Zealand.” Journal of Environmental Law 30, 207–234.
  • Elizabeth Macpherson (2019). Indigenous Water Rights in Law and Regulation: Lessons from Comparative Experience. Cambridge University Press.
  • Christopher Stone (1972): ShouldTreesHaveStanding?andOtherEssaysonLaw,Morals,andtheEnvironment.
  • Olivia Woolley (2014). Ecological Governance: Reappraising Law’s Role in Protecting Ecosystem Functionality. Cambridge University Press.