Die Paulskirche als Wiege der deutschen Demokratie - eine historische Einordnung

Die Paulskirche als Wiege der deutschen Demokratie - eine historische Einordnung

Die Paulskirche

I. Ort der Demokratiegeschichte

Die Frankfurter Paulskirche ist für die Demokratiegeschichte Deutschlands ein Ort von herausragender Bedeutung. Hier kamen im Mai 1848 Delegierte aus allen Teilen des Landes zu einer ersten Nationalversammlung zusammen, und hier wurde im Folgejahr die erste deutsche Verfassung verabschiedet.

Im deutschsprachigen Raum, der damals in Dutzende Monarchien aufgesplittert war, bildete die Versammlung in der Paulskirche den Kristallisationspunkt eines liberalen Aufbruchs zu demokratischer Partizipation, Freiheits- und Grundrechten und einer Verfassung, die die feudalen Machtstrukturen begrenzen sollte. Das Ziel war die Schaffung nationaler Einheit auf der Grundlage rechtsstaatlicher Strukturen. Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands sollten Menschen- und Bürgerrechte gesetzlich verankert werden. Zu den beschlossenen Grundrechten zählten unter anderem die Meinungs- und Redefreiheit, der Schutz vor staatlicher Willkür, die Religionsfreiheit, der Zugang zu Bildung sowie die Freiheit des Eigentums. Hervorzuheben ist die Gleichstellung der Juden. Auf die Bildung einer demokratischen Republik hingegen konnten sich die Versammelten nicht einigen.  Ein erblicher Kaiser sollte künftig als Staatsoberhaupt fungieren.

Für die Zeit nicht ungewöhnlich, kamen in der Paulskirche durchweg nur gebildete männliche Abgeordnete des Bürgertums zusammen. Sie formierten sich zu Fraktionen, wobei die konservativen Kräfte die Mehrheit bildeten. Frauen blieben ebenso ausgeschlossen wie Menschen ohne Bildungs- und Einkommenschancen. Mit der Forderung, auch Minderheiten zu beteiligen, konnten sich die Kräfte der Linken nicht durchsetzen.  

Die Verfassung, die schließlich im März 1849 verabschiedet wurde, trat nie in Kraft. Der demokratische Aufbruch scheiterte am Widerstand der damaligen Großmächte Preußen und Österreich. Die Niederschlagung der Revolution machte den Weg frei für eine von Preußen von oben verfügte, autoritär-militärisch geprägte nationale Einheit. Erst nach dem von Deutschland ausgegangenen Ersten Weltkrieg kamen mit der Ausrufung der Weimarer Republik im November 1918 die von der Paulskirchen-Versammlung beschlossenen Prinzipien für kurze Zeit zum Tragen. Und es wurde ein langer Kampf, bevor Frauen in Europa das Wahlrecht erhielten. Die Gleichstellung von Frauen und Männern wurde in Deutschland erst im 1948 verabschiedeten Grundgesetz verankert.

 

II. Drängen auf gesellschaftliche Modernisierung

Die Paulskirche wird mitunter als „Wiege der deutschen Demokratie“ bezeichnet. Doch die Entwicklung zu demokratischen Verhältnissen reicht weit über die erste Nationalversammlung hinaus zurück. Von den Ideen der Französischen Revolution inspiriert, verlangte das im 19. Jahrhundert aufsteigende Wirtschaftsbürgertum nach wirksamen politischen Einflussmöglichkeiten. Zugleich sorgte die beginnende Industrialisierung des Landes für wachsende soziale Missstände. Große Teile der Bevölkerung wurden von neuen Formen struktureller Armut erfasst. Als Gegenströmung zu den liberalen Kräften, die vor allem auf eine Beschränkung der feudalen Macht drängten, entstanden sozialistisch gesinnte Bewegungen, die radikale soziale Reformen forderten. Die Zeit bis zum Ausbruch der deutschen Revolution im März 1848 wird auch als „Vormärz“ bezeichnet. In ihm wurde der überkommene Obrigkeitsstaat zugleich von den Ideen des Liberalismus und des Sozialismus herausgefordert.

 

III. Kampf um soziale Rechte

Die Widersprüche zwischen bürgerlichen und sozialistischen  Ideen spiegeln sich auch in den Debatten der Nationalversammlung, deren Mehrheit radikale demokratische und soziale Veränderungen verhindern wollte.

Abgelehnt wurde etwa der im Juli 1848 von dem Sprach- und Literaturwissenschaftler Jacob Grimm in die Debatte eingebrachte Vorschlag, den Artikel 1 der Grundrechte um den Satz zu ergänzen: „Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“ Abgelehnt wurde auch der von Grimm vorgeschlagene Artikel 3: „Kein Deutscher darf einen Sklaven halten, noch sich unmittelbar oder wissentlich mittelbar beteiligen bei Unternehmungen, die auf Sklavenhandel ausgehen oder nur mittelst Sklaven in Ausführung gebracht werden können.“ Offenbar erschien einer Mehrheit des Parlaments die Einrichtung der Sklaverei zu jener Zeit, als auch europäische Mächte vom internationalen Handel mit Sklaven profitierten, nicht verurteilenswert

Auch in der Frage sozialer Grundrechte konnten sich die fortschrittlichsten Kräfte nicht durchsetzen. Deren Drängen auf ein Recht auf Arbeit respektive soziale Sicherungen konterten die Liberalen mit dem Hinweis, die nun vereinbarte Gewerbefreiheit würde es auch den Armen ermöglichen, sich selbst aus der Armut zu befreien. Es zeigt sich also:  Der ökomische Neo-Liberalismus der Gegenwart reicht ebenso wie auch die in vielen entwicklungspolitischen Strategien noch immer verfolgte Idee eines Entrepreneurship-Wesens weit zurück.

Schließlich scheiterte auch der Vorschlag, Vertreter aus dem von Preußen besetzten Polen zur Versammlung zuzulassen. Mit dem Argument, ein großes Volk brauche „Raum, um seinen Weltberuf zu erfüllen“, wurde nicht nur die Kolonisierung Polens durch Preußen gutgeheißen, sondern auch die legitimatorische Grundlage für die weitere koloniale Expansion Deutschlands im 19. Jahrhundert geschaffen.

 

IV. Die transnationale Dimension

Daran gilt es heute ebenso zu erinnern wie an die Tatsache, dass die revolutionären Erhebungen 1848 nicht auf Deutschland beschränkt blieben, sondern bereits ganz Europa erfasst hatten.

Ausgelöst durch die Februar-Revolution 1848 in Frankreich, deren maßgeblicher Träger erstmals das dort entstandene Industrieproletariat war, kam es wenig später auch in den Staaten des Deutschen Bundes, im polnischen Posen, in Prag, in Ungarn, in Siebenbürgen, der Walachei, in Wien, Italien und an vielen anderen Orten zu Aufständen.

Nachdem klar wurde, dass sich die parlamentarische Mehrheit in der Paulskirche eher mit dem Adel arrangieren wollte als auf republikanische Ideen zu setzen, verlagerte sich der Protest mehr und mehr auf die Straße. Nach Ablehnung der Paulskirchenverfassung im Mai 1849 durch die meisten Fürstenhäuser des Deutschen Bundes bildeten republikanische Kräfte im Großherzogtum Baden eine Revolutionsregierung, die schließlich im Juli 1849 von preußischen Truppen militärisch niedergeschlagen wurde.

Als Folge des Scheiterns der Revolution wurden eine halbe Million Menschen in die Flucht getrieben. Allein aus Baden brachten sich 80.000 Menschen im Ausland in Sicherheit. Viele fanden in den USA Asyl, wo sie später hohe Posten in Armee und Politik übernahmen. Noch heute würdigen die USA die Leistungen der „48ers“ u.a. bei der Bekämpfung der Sklaverei; in Deutschland hingegen sind sie weitgehend in Vergessenheit geraten.

Dennoch ist festzuhalten: Auch wenn die Revolutionen 1848/49 gescheitert sind, haben sie Europa doch verändert. Nichts blieb mehr wie es war. In vielen Ländern konnten verfassungsmäßige Ordnungen durchgesetzt, individuelle Grundrechte verankert und – im Zuge der Bildung von Parlamenten – Demokratisierungsprozesse in Gang gesetzt werden.

 

V. Die Paulskirche heute: ein Ort der freien Rede

Die Paulskirche ist heute ein säkularer Ort im Besitz der Stadt Frankfurt. Im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, wurde sie als Erinnerungsort, der auch an die Verbrechen der nationalsozialistischen Vergangenheit gemahnt, wieder aufgebaut.

Die Paulskirche ist eine der bedeutendsten Sprechstellen Deutschlands. Hier wird alljährlich der international renommierte Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen, hier nahmen für die gesellschaftliche Entwicklung bedeutende Auseinandersetzungen ihren Ausgang: Debatten über die Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, über Antisemitismus, die Bedrohungen der Demokratie und seit einigen Jahren verstärkt über Fragen globaler Zusammenhänge.

Und so zeichnet die Paulskirche nicht nur rückwärtsgewandt die Entwicklung der Demokratie in Deutschland nach, sondern lenkt den Blick auch nach vorne. Dazu gehört die Verpflichtung, die großen Herausforderungen der Gegenwart ernst zu nehmen und Demokratie in einem umfassenden Sinne neu zu denken.

Über die Hälfte der Einwohner Frankfurts haben einen Migrationshintergrund; viele verfügen über multiple Zugehörigkeiten. Sie sind Teil der lokalen Stadtgesellschaft, Bürger:innen der Europäischen Union, Mitglieder migrantischer Communities, Angestellte multinational tätiger Unternehmen und immer auch Menschen, die längst in der Welt zu Hause sind. Ein Nachdenken über das, was Demokratie in einer näher zusammengerückten und von existenziellen Krisen bedrohten Welt meint, ist überfällig.