Die Global Assembly lädt ein: Vorbereitende Veranstaltungen in Nürnberg, Frankfurt, München und Berlin

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Globale Ungerechtigkeit und soziale Rechte – Workshop und Abendveranstaltung zur Global Assembly

Im Eine-Welt-Haus München fand am 01.02.2024 der Workshop „Global und gerecht: Wege aus einer Ökonomie der Ungleichheit“ im Rahmen der Global Assembly statt. Es diskturierten Aram Ziai, Dennis Eversberg, Sabrina Schmitt, Flávio Benitws, Aïda Roumer, Alfred Eibl, Nina Treu, Biancka Arruda Miranda und Kathrin Hartmann.

Dieser Bericht wurde von Laura Meschede verfasst

Die Aussichten auf ein gutes Leben sind im Kapitalismus ebenso ungleich verteilt wie das Vermögen. Ausbeutung und Ungleichheit prägen die Verhältnisse innerhalb der einzelnen Länder – und weltweit. Aber: Woher kommt die Ungleichheit? Wie funktioniert sie? Wen trifft sie – und wen in besonderem Maße? Welche Rolle spielen Reproduktion und Produktion? Wie spielen kapitalistische Ausbeutung und Rassismus zusammen? Und was muss geschehen, damit die Überwindung der vorherrschenden Verhältnisse möglich wird?

All diese Frage spielten eine Rolle bei dem Workshoptag zur Global Assembly am 1. Februar 2024 in München, auf dem die Diskussionen der Assembly zum Thema „Globale Ungerechtigkeit und soziale Rechte“ vorbereitet werden sollten. Die Vorträge widmeten sich dem Themenbereich unter den unterschiedlichsten Aspekten – und wurden im Anschluss unter der Moderation von Sophie Jänicke (IG Metall und medico international) durchaus kontrovers diskutiert.

Die Themenbereiche, denen sich die Referent:innen in ihren Vorträgen annäherten, reichten von den gesellschaftlichen Einstellungen zur sozial-ökologischen Transformation über die Bedeutung der Care-Arbeit bis hin zum Sozialdumping in einer Freihandelszone an der Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik.

Die vielfältigen Diskussionen, die sich daraus entsponnen, wurden auch bei der abendlichen Podiumsdiskussion noch einmal aufgegriffen und zusammengeführt.

Die Beiträge der Teilnehmenden werden in dieser Broschüre zusammengefasst.

Der Workshop und die Abendveranstaltung wurden vom Initiativkreis der Global Assembly in Kooperation mit dem Nord-Süd-Forum München veranstaltet, das mit seinem inhaltlichen und organisatorischen Engagement entscheidend zur Durchführung des Workshops und der Abendveranstaltung beitrug.

 

1.) Aram Ziai: Zum Stand globaler Ungleichheitsverhältnisse und der Tauglichkeit des Neokolonialismus-Begriffs

„Wenn Elon Musk wollte“, sagte Aram Ziai, Professor für Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel, in seinem Eingangsvortrag, „dann könnte er 150.000 Jahre lang jeden Monat einen Mercedes S580e kaufen.“ Und er hat noch mehr Beispiele, die den aktuellen Stand der Ungleichheit verdeutlichen: Aktuell besitzen acht Menschen so viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit. Würden die reichsten 10 Männer dieser Erde 99,999 Prozent ihres Reichtums verlieren, dann wären sie danach immer noch reicher als 99 Prozent der Menschheit. Und gleichzeitig stirbt alle 4 Sekunden ein Mensch an fehlendem Zugang zu Nahrung, Medizin oder sauberem Wasser.

Alle vier Sekunden: Man müsse sich aktiv bewusst machen, was für eine enorme Gewalt das bedeute, sagt Ziai: „Eine Gewalt, die von unserem Wirtschaftssystem ausgeht: Dem Kapitalismus.“

Die Ungleichheit ist also enorm. Aber: Verringert sie sich zumindest, wie das immer wieder von Apologeten des Neoliberalismus behauptet wird? Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten.

Der Ungleichheitsforscher Branko Milanovic von der Weltbank, erklärt Ziai, unterscheidet drei unterschiedliche Konzeptionen von Ungleichheit: In einer Konzeption wird schlicht das Verhältnis der Länder der Welt miteinander verglichen und das Verhältnis von armen zu reichen Ländern bestimmt. Die Bevölkerungszahl der Länder spielt in diesem Modell allerdings keine Rolle. „China zählt in dieser Konzeption also genau so viel wie Luxemburg“, sagt Ziai. „Das ist natürlich absurd.“

In einer weiteren Konzeption wird die Bevölkerungszahl der Länder zwar berücksichtigt, indem das Pro-Kopf-Einkommen als Grundlage für die Untersuchung genommen wird. In diesem Modell wird jedoch nicht zwischen armen und reichen Bewohner:innen des Landes unterschieden.

Ein drittes Konzept versuche schließlich, auch diesen Fehler auszugleichen: Hier werden die konkreten Haushaltseinkommen miteinander verglichen. Dafür die Datengrundlage zusammenzubekommen, ist jedoch gar nicht so einfach.

„Weil das sehr unterschiedliche Konzepte sind, um Ungleichheit zu messen, gibt es auch sehr unterschiedliche Ansichten darüber, ob die Ungleichheit weltweit zu- oder abnimmt“, sagt Ziai. Milanovic selbst komme zu dem Schluss, es könne sein, dass die Ungleichheit zu sinken beginne. „Wobei man sich angesichts seiner Zahlen fragt: Wie kommt er darauf?“, sagt Ziai.

Was die Daten auf jeden Fall verraten, ist, dass das Einkommen weltweit gesehen noch ungleicher verteilt ist als innerhalb der einzelnen Länder, selbst der am meisten ungleichen Länder wie Südafrika.

Ein Grund für Ziai, einen Blick auf das Konzept des Neokolonialismus zu richten. Neokolonialismus, das bedeutet nach Kwame Nkrumah, dass trotz formaler Souveränität das wirtschaftliche System eines Landes von außen gesteuert wird. Trifft das zu?

Ziai sieht auf jeden Fall einige Anzeichen dafür: „Jährlich fließen bis zu 1000 Milliarden Dollar netto von den armen in die reichen Länder ab“, sagt er. „Dazu kommen die IWF-Sanktionen, die Krisen und Armut mit sich bringen oder verstärken, so wie beispielsweise in Argentinien. Die Entscheidungsmechanismen der Institutionen des weltweiten Finanzsystems (IWF und Weltbank) bezeichnet Ziai als „so demokratisch wie das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht“. Denn: Dort richtet sich das Gewicht der eigenen Stimme nach der Menge des eingezahlten Geldes.

Durch den Kolonialismus verursachte Asymmetrien finden sich auch im Welthandel: Der innerkontinentale Handel des globalen Nordens beispielsweise übersteigt den des globalen Südens bei Weitem. Denn: Einst wurden die Kolonien auf den Export in Europa benötigter Waren ausgerichtet – und noch heute ist ihre Wirtschaft davon geprägt.

Was es bräuchte, um diese Strukturen der Ungleichheit zu besiegen? Ziai ist überzeugt: „In letzter Konsequenz: Die Überwindung von Kapitalismus und Nationalstaatlichkeit.“ Mit dem Beharren auf nationalen Interessen und der Koppelung von Existenzsicherung an die Verwertbarkeit auf dem Markt seien grundlegende Veränderungen nicht machbar.

 

2.) Dennis Eversberg: Formen und Folgen der Externalisierung von ökologischen und sozialen Kosten imperialer Lebensweisen

In einer breit angelegten Untersuchung hat Dennis Eversberg, inzwischen Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Umweltsoziologie an der Goethe Universität Frankfurt am Main, hat an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Mentalitäten und Lebensweisen im Konflikt um die sozial-ökologische Transformation untersucht, die er im zweiten Eingangsvortrag des Workshoptages präsentierte. Insgesamt 4000 Menschen wurden im Rahmen der Umfrage „Biomentalitäten“ telefonisch befragt. Das Ergebnis dieser Umfrage hat Eversberg in einem Modell des sozialen Raums nach Bourdieu angeordnet.

Das Ergebnis ist eine Unterscheidung dreier Spektren von in der Bevölkerung verbreiteten Grundhaltungen zu Fragen sozial-ökologischer Transformation: Das „ökosoziale Spektrum“, das „defensiv-reaktive Spektrum“ und das „konservativ-steigerungsorientierte Spektrum“.

„Die Mentalitäten des ökosozialen Spektrums, die sozial-ökologische Transformation als etwas Positives begrüßen oder auch aktiv einfordern“, so Eversberg, „sind besonders stark verbreitet unter Angehörigen der Bildungs-, Kultur-, Kommunikations- und sozialen Berufe.“

Das „defensiv-reaktive“ Spektrum nehme dagegen die Transformation als Zumutung und wirtschaftliche Bedrohung durch die Machenschaften abgehobener Eliten wahr und nehme  unterschiedliche Varianten von Abwehrhaltungen ein. Diese Ansichten seien insbesondere unter Beschäftigten der prekären Dienstleistungsberufe verbreitet. Das dritte Spektrum, das Eversberg identifiziert, ist das konservativ-steigerungsorientierte Spektrum. Dieses Spektrum habe bisher eine Balance zwischen der Anerkennung von Veränderungsnotwendigkeiten und dem Wunsch nach Fortsetzung der eigenen Lebensweise gesucht. Mit zunehmender Krisendynamik sei dabei immer mehr das Beharren auf Letzterer ins Zentrum gerückt. Die Mentalitäten des „konservativ-steigerungsorientierten Spektrums“ seien dabei besonders unter materiell wohlhabenden Gruppen verbreitet. Dazu zählen die Angehörigen der leitenden Positionen, der technischen Verwaltungs- und Organisationsberufe, des „alten Mittelstands“ und der Staats- und Wirtschaftseliten.

„Auch wenn sich so typische Zusammenhänge zwischen Mentalitäten und sozialstrukturellen Positionen aufzeigen lassen, sind die Mentalitätsspektren und die insgesamt zehn Mentalitätstypen, aus denen sie sich zusammensetzen, keine einfachen Widerspiegelungen von Klassenpositionen“, sagt Eversberg. „Sie sind eher locker mit ihnen verbunden.“ Die „Fronten“ im Konflikt um die Transformation, zu dem auch die Aushandlung von Fragen internationaler Solidarität gehört, seien dabei nicht festgefügt, sondern durchaus beweglich, und die Art der Politisierung dieser Fragen mache durchaus einen Unterschied.

Eversberg schlussfolgert: Wenn derzeit öffentlich vor allem über die Kosten der Transformation gesprochen und so getan werde, als diene diese nur den Interessen „grüner städtischer Eliten“ auf Kosten der „hart arbeitenden einfachen Leute“, dann werde damit ein in großen Teilen falscher Gegensatz geschürt, der von der drastisch ungerechten Verteilung der Kosten des jetzigen gesellschaftlichen Normalbetriebs ablenke. „Um das zu ändern und die Kritik auf jene mächtigen wirtschaftlichen Interessen zu lenken, die eine gerechte gesellschaftliche Transformation tatsächlich blockieren, braucht es Allianzen zwischen sozialen Bewegungen und den ,inneren Peripherien‘ der imperialen Lebensweise“, so Eversberg. „Diese sind aber aus einer Reihe von Gründen derzeit besonders schwer zu schließen.“

 

3.) Sabrina Schmitt: Prekäre Arbeit im Care-Bereich

„Care“: Was ist das eigentlich? Für Sabrina Schmitt, die an der Frankfurter University of Applied Sciences zu den Themenbereichen Gender und Care forscht und lehrt, kann der Begriff zweierlei bedeuten: Sie versteht Care sowohl als analytische Kategorie, die „auf der Mikro-Ebene etwas über die Praxis sagen kann“, als auch als „normativ als herrschaftskritische Kategorie“.

Im analytischen Sinne, so Schmitt, könne Care als eine spezifische Praxis verstanden werden, die sich stets auf ein Gegenüber beziehe. Dieses Gegenüber könne dabei eine Entität sein – so wie beispielsweise die Natur – oder eine Person; die Praxis versuche, die Welt oder ebendieses Gegenüber „zu erhalten und zu reparieren“. Normativ versteht sie Care dagegen als herrschaftskritische Kategorie, die Geschlechterungerechtigkeit und Verwertungslogik kritisch hinterfragt.

Darin sieht Schmitt durchaus transformatives Potenzial. Denn: „Der Ausbeutungsgrad von Care lässt sich nur bis zu einem bestimmten Punkt intensivieren und damit nur bedingt in eine Rationalisierung- und Profitlogik pressen.“ Das Ziel der immer weiteren Rationalisierung müsse an Care notwendigerweise scheitern. „Ich kann nicht ,schneller´ mit jemandem in einer Beziehung sein.“ Darin liege das widerständige Potenzial von Care.

Gleichzeitig herrschen in der institutionalisierten Care-Arbeit prekäre Arbeitsbedingungen vor: Burn-Out, extreme Ausbeutung und die Migration Pay Gap, bei der anhand rassistischer Kriterien bezahlte Care-Arbeiterinnen schlechter entöohnt werden, sind nur drei von zahlreichen Beispielen. „Care ist immer prekär, weil immer versucht wird, zu rationalisieren“, sagt Schmitt, ein Beispiel sei die Minutenpflege. Aber Care-Arbeit lässt sich eben nicht rationalisieren. „Das setzt die Fachkräfte unter unendlichen Arbeitsdruck.“

Dazu kommt, dass Care gerade in Haushalten außerhalb jeder tariflichen oder auch nur arbeitsrechtlichen Regulierung stattfindet. Sogenannte 24-Stunden-Live-In-Pflegekräfte, Au-Pairs, Putzkräfte: In all diesen Bereichen gebe es so auf politischer Ebene nur wenige und unzureichende Versuche der arbeitsrechtlichen Regulierung.

Dabei treffe die Ausbeutung im Care-Bereich in erster Linie weiblich gelesene und rassifizierte Personen. „Wir sprechen also über eine vergeschlechtlichte Prekarität an der Schnittstelle Race/Class“, so Schmitt.

Die Tatsache, dass im globalen Norden große Teile der Care-Arbeit an extra zu diesem Zwecke angeworbene Arbeitskräfte aus anderen Ländern ausgelagert werden, hat dabei noch eine weitere Dimension: Überall dort, wo die Frauen, die Medizinerinnen, die Pflegekräfte abwandern, hinterlassen sie eine Lücke; der „Care-Drain“ führt zu einer „Care-Lücke“ in den betroffenen Ländern. Dazu kommt auch ein „Brain Drain“, denn auch das Wissen der Care-Arbeiter:innen, ob im medizinischen oder im pflegerischen Bereich, wandert mit ihnen aus. Manchmal wird die Lücke, die die ausgewanderten Care-Arbeiter:innen gewissen haben, wiederum von Migrantinnen aus anderen Ländern gefüllt. Dann entstehen ganze „Care-Ketten“.

„Aber selbst wenn wir über diese Themen reden, dann findet das immer vor dem Hintergrund der Verwertungslogik statt“, sagt Schmitt. „Wir werben Pflegekräfte an, damit Leute in der Zeit, die sie ihnen sparen, in die Lohnarbeit gehen können. Arbeitsmarktpartizipation von (akademisierten) Frauen soll sichergestellt werden. Das ist die Logik, in der Care hier diskutiert und ,gewertschätzt‘ wird – aber es geht nicht um eine echte Anerkennung von Care-Arbeit. Das wird auch daran deutlich, dass im Anfang 2024 verabschiedeten Einbürgerungsgesetz die Einbürgerung von Menschen mit Behinderung, Alleinerziehenden und pflegenden Angehörigen – als Care-Receivern und Care-Arbeitenden – erschwert wurde.

Aber es sei auch möglich, sich zu wehren. „In der Schweiz beispielsweise gibt es Care-Arbeiter:innen, die streiken, die sich organisiert und in einer Gewerkschaft zusammengeschlossen haben“, sagt Schmitt. „Den meisten Care-Arbeiter:innen ist schließlich klar, in was für einer prekären Lage sie sind und dass die Arbeitsstrukturen problematisch sind.“

Die Frage sei, wo sich Anschlussmöglichkeiten böten. „Klar ist auf jeden Fall: Es gibt hier viel Potenzial und widerständige Praxen.“

 

4.) Flávio Benitws: Migrantische Arbeit zwischen Ausbeutung und Aufstieg

Flávio Benites, Erster Bevollmächtigter und Geschäftsführer der IG Metall in Wolfsburg, berichtete aus seiner langjährigen Erfahrung mit der Praxis migrantischer Arbeit. Zu Beginn der 90er-Jahre arbeitete er als Rechtsanwalt für die brasilianische Metallgewerkschaft. 1991 kam er mit einer Delegation brasilianischer Betriebsräte zum ersten Mal nach Wolfsburg. „Damals hat man uns gesagt: ,Wir haben hier 60.000 Arbeiter und davon arbeiten 45.000 in der Fabrik und sind zu 95 Prozent bei der IG Metall organisiert. Die 15.000 anderen arbeiten im Büro und unter ihnen liegt der Organisationsgrad bei mehr als 80 Prozent‘“, erzählt Benites. „Heute sind von 60.000 Arbeitern nur noch 15.000 in der Produktion – 45.000 sitzen in Büros. Die Belegschaft ist komplett umgekrempelt worden. Aber noch immer ist die Mehrheit in der IG Metall organisiert.“

Binnen 30 Jahren hat sich die Struktur der Belegschaft also radikal verändert. Das hatte Auswirkungen auf die Stadt Wolfsburg, deren Antlitz stark durch die Arbeiter:innenschaft von VW geprägt wird. Und es bedeutete auch für die IG Metall eine radikale Veränderung. Sie musste sich umstellen: Ihre neue Zielgruppe waren White-collar-Beschäftigte, Ingenieure, IT-Personal und andere hochqualifizierte Beschäftigte.

Diese Veränderungen betrafen auch die migrantischen Teile der Belegschaft. Besonders italienische Migrant:innen stellen seit den 60er-Jahren einen bedeutenden Teil der VW-Belegschaft.

„In Wolfsburg gibt es nun zwei sehr unterschiedliche Arten von Migration“, erklärt Benites. „Zum einen gibt es den klassischen Migrationsfluss. Und zum anderen gibt es einen nicht-klassischen Migrationsfluss von Beschäftigten, die hochqualifiziert sind.“

Auf der einen Seite stünden jene Arbeiter:innen, „die teilweise keine Arbeitserlaubnis bekommen, die in prekären Bereichen arbeiten und häufig illegalisiert werden“ – und auf der anderen Seite die hochqualifizierten Migrant:innen, denen, so Benites, „viel schneller und einfacher ein Platz in der Gesellschaft eingeräumt wird“. Für die gewerkschaftliche Arbeit sei dieser Unterschied von großer Bedeutung.

Ebenfalls eine wichtige Bedeutung sieht Benites in dem Zusammenspiel zwischen Individualität und Kollektivität. „Auf der einen Seite gibt es das Individuum, das den Impuls bekommt, von daheim wegzugehen, zum Beispiel, weil dort Krieg herrscht“, sagt Benites. „Und auf der anderen Seite gibt es den kollektiven Faktor, nämlich die Gesellschaft, die das Individuum in Empfang nimmt. Hierzulande ist das zumeist eine ablehnende Institutionalität.“ Von Multikulturalität zu sprechen, sei in diesem Kontext nicht angebracht, weil diese zumeist überhaupt nicht erwünscht sei. In der Gewerkschaftsarbeit sei dies zumindest teilweise anders. „Nicht umsonst ist unsere Konzernbetriebsratsvorsitzende eine Migrantin.“

Und ein dritter Aspekt werde immer wichtiger: „Die Militarisierung der Wirtschaftsbeziehungen ist gekommen, um zu bleiben“, so Benites. Dies bringe immer auch eine rassistische Komponente mit sich. „Antifaschistische Arbeit im Betrieb ist deshalb umso wichtiger.“

 

5.) Aïda Roumer: Sozialdumping in Freihandelszonen am Beispiel Haiti/Dominikanische Republik

Wie koloniale und kapitalistische Ausbeutung zusammenhängen, zeigt Aïda Roumer, Doktorandin an der Frankfurter Goethe-Universität,  ganz konkret mit ihrer Forschung zum Sozialdumping in einer Freihandelszone an der Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik, zwischen den Städten Ouanaminthe und Dajabón.

1937 hatte es genau dort, direkt am „Massacre“-Fluss, wo heute eine Freihandelszone liegt, ein rassistisches Massaker an Haitianer:innen gegeben. „Wer ermordet wurde, wurde durch einen Sprachtest entschieden“, sagte Roumer. „Alle Menschen, die das Wort ‚Perejil‘ – also: Petersilie – nicht akzentfrei aussprechen konnten, wurde ermordet.“ Es waren Zehntausende. „Dieses Massaker ist nie aufgearbeitet worden“, sagte Roumer. An dem Ort, an dem es verübt wurde, steht nun die Freihandelszone CODEVI.

„Es gibt ein historisches Gefälle, eine Ungleichheit auf der Insel Hispaniola, die in eigentlich jedem Indikator zu finden ist, den man sich ansieht“, erklärte Roumer. Diese Ungleichheit setze sich auch innerhalb der Freihandelszone fort. Zwar unterliegt sie dem haitianischem Arbeitsrecht und gehört zur haitianischen Grenzstadt Ouanaminthe. Jedoch wird sie vom dominikanischen Entrepreneur Fernando Capellan geführt und nutzt die dominikanische Infrastruktur für den Warenexport in die USA. Dieses Konstrukt ist institutionell verankert: Haiti hat als Low-Income-Country vergünstigte Zugänge zum US-amerikanischen Markt, die der Dominikanischen Republik als Schwellenland mittlerweile verwehrt sind. Durch die Nutzung haitianischer Arbeitskraft in der Produktionskette werden jene vergünstigten Zugänge weiterhin aufrechterhalten.

„Es gibt zwei Zugänge zu der Freihandelszone: einen auf der haitianischen und einen auf der dominikanischen Seite“, erläuterte Roumer. „Auf der einen Seite befinden sich die Fabrikhallen und eine Kantine, auf der anderen die Management-Büros, eine Hotelanlage und Restaurants. In der Mitte fließt der Massacre-Fluss, der gewissermaßen die ‚natürliche‘ Grenze markiert. Erst dort – auf dem Privatgelände – finden offizielle Grenzkontrollen statt.“ An den Eingängen zum Gelände hingegen wird keineswegs jeder kontrolliert: „Je nachdem, welcher Körper durch diese Pforten geht, finden Kontrollen statt oder nicht“, sagte Roumer.

Während die vorwiegend hellhäutigen Dominikaner:innen in Management- und Führungspositionen auf der einen Seite des Flusses arbeiteten, seien die prekären Jobs in den Textilhallen den Haitianer:innen auf der anderen Seite zugedacht. Dunkelhäutige Haitianer:innen seien auf dem Hotel- und Gastronomiekomplex meist als Gärtner oder Putzkraft zu sehen. „Das Zusammenspiel von Kapitalismus und Rassismus ist dort unglaublich offensichtlich.“

Auch durch den Widerstand zieht sich die koloniale Kontinuität rassistischer und kapitalistischer Ausbeutung: „Obwohl dominikanische Angestellte sich auch den haitianischen Gewerkschaften anschließen könnten, tun sie es nicht. Die Denkmuster sind festgefahren. Wenn es in der Freihandelszone Streiks gibt“, sagte Roumer, „dann springt dies von der haitianischen Belegschaft immer gleich auf ganz Ouanaminthe über; es findet jedes Mal eine sofortige Verknüpfung zwischen den Produktions- und Reproduktionssphären vor Ort statt; angeprangert werden dann die formellen Arbeitsbedingungen, das rassistische Grenzregime, die Korruption der haitianischen Regierung und die daraus resultierenden Lebensumstände in Ouanaminthe.“

Diese Strategie ist durchaus erfolgreich. Roumer erzählte: „2005 haben es Arbeiter:innen der CODEVI mit internationaler Unterstützung beispielsweise geschafft, dass Levi´s sich wegen massiver Proteste aus der Zone zurückziehen musste – und die Weltbank gezwungen wurde, ihre für Privatkredite zuständige International Finance Corporation (IFC) zur Einhaltung von ILO-Standards zu verpflichten.“

 

6.) Alfred Eibl:  Kritik an Freihandelsabkommen und Kampf um den Schutz sozialer/ökologischer Rechte

Wie entwickelt sich die globale Wirtschaft? Für Alfred Eibl (Attac München) stehen bei der Antwort auf diese Frage drei Punkte im Vordergrund: Die De-Fossilisierung, die Digitalisierung und die Neue Blockbildung.

„Defossilisierung bedeutet konkret: Es gibt stoffliche Verschiebungen“, sagt er. „Die Energieträger verändern sich; es werden andere Ressourcen gebraucht. Wasserstoff und Strom werden in einem ganz neuen Ausmaß gebraucht. Für die Nutzung regenerativer Energien werden neue Rohstoffe wie beispielsweise Lithium benötigt. Landwirtschaftlich nutzbare Flächen werden nützlicher, das Landgrabbing nimmt zu.“

Gleichzeitig werde der Entwicklungsschub bei der Künstlichen Intelligenz eine Veränderung der Arbeitswelt herbeiführen. Nach dem Ende des „Hypes“, den es sicher geben werde, werde die KI Schritt für Schritt Prozesse in der Arbeitswelt umgestalten, so Eibl.

Und zuletzt sei da die neue Blockbildung: „Neben dem Westen sowie China und Russland entsteht momentan ein dritter Block aus Ländern wie Indien, Indonesien, Brasilien und Südafrika“, sagt er. Dazu kämen die Verschiebungen der Produktion zwischen den Blöcken: „Jedes dritte Produkt weltweit wird heute in China produziert“, so Eibl. Vor 20 Jahren habe dieser Wert noch bei etwa 10 Prozent gelegen. Der jährliche Außenhandelsüberschuss Chinas übersteigt 800 Milliarden Dollar. Die Folge: Verstärkte Handelsbeschränkungen, um die eigene industrielle Basis bzw. Vormachtstellung nicht zu verlieren.

Dazu kommt, dass sich der Kampf um Rohstoffe verschärft. Mit zwischenstaatlichen Abkommen werde versucht, sich die Rohstoffbasis zu sichern, ohne Rücksicht auf damit verbundene Umweltschäden bei deren Ausbeutung oder auf die betroffenen indigenen Gruppen. Aktuell stehen für Attac dabei das beabsichtigte Lithiumabkommen mit Chile und das Mercosur-Abkommen mit Lateinamerika im Vordergrund.

 

7.) Nina Treu: Widerstand und Transformation zwischen regionalem Aktivismus und globalen Konzepten

Sozialökonomische Transformation – was bedeutet das eigentlich? Und: Wie kann es in der Realität aussehen? Den Antworten auf diese Fragen hat sich Nina Treu vom Konzeptwerk Neue Ökonomie anzunähern versucht. Auf dem Workshop stellte sie eine gemeinsame Kurzstudie von Shrishtee Bajpai, Susanne Friess, Kai Kuhnhenn, Ashish Kothari, Boniface Mabanza Bambu und ihr selbst vor, die sie für Misereor durchgeführt hatten. Als Analysetool diente die sogenannte „Flower of Transformation“. Sie ermöglichte es ihnen, nicht nur ökonomische, sondern auch kulturelle, demokratische und ökologische Veränderungen in ihre Untersuchung miteinzubeziehen.

Mit diesem Instrument haben Treu und ihre Kolleg:innen verschiedene transformatorische Ansätze untersucht. Denn davon gibt es einige. „In Asien gibt es beispielsweise den demokratischen Konförderalismus und die Ecoswaraj, also traditionelle indische Dorfgemeinschaften mit einer ökologischen Perspektive“, sagt Treu. Daneben haben sie und ihre Kolleg:innen sich unter anderem mit der lateinamerikanischen „Economía de Francisco y Clara“ und den amerikanischen und europäischen solidarischen Landwirtschaften (SoLaWis) beschäftigt und sich die „Alternatives to Neoliberalism in Southern Africa“ (ANSA) und den Ruf nach Vergesellschaftung in Europa angesehen.

Ihre Untersuchung, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Konzepte zeigen sollte, ergab: So unterschiedlich die verschiedenen Ansätze sein mögen, sie alle richten sich gegen Kolonialismus, Markt und Kapital. „Sie alle stellen sich gegen den Kapitalismus als Zentrum der Gesellschaft und stellen dem Solidarität, Gemeinschaft, Vielfalt und eine andere Art von menschlichen Beziehungen entgegen“, sagt Treu.

Gleichzeitig gebe es durchaus auch Unterschiede: So hätten manche der Konzepte ihren Ursprung in der vorkapitalistischen Zeit, andere dagegen seien erst in der Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Wirtschaftsmodell entstanden, erklärt Treu. So wie ANSA, das aus den Protesten gegen die Strukturanpassungsreformen entstanden sei. Und während die Konzepte des globalen Nordens eher theoretischer Natur seien, seien die Ansätze des globalen Südens oft viel stärker in der Praxis veranlagt. Auch in ihrem Ausgangspunkt unterscheiden sich die verschiedenen Konzepte. „Aber eines haben sie alle gemeinsam: Den Wunsch nach mehr Gerechtigkeit.“

 

8.) Biancka Arruda Miranda: Indigener Widerstand in Brasilien

Der viertgrößte Ölproduzent der Erde werden: So laute das selbstgesetzte Ziel der brasilianischen Regierung, sagte Biancka Arruda Miranda, Vorstandsmitglied bei KoBra – Kooperation Brasilien e.V. Es ist ein Ziel, das eine enorme Steigerung der Ölfördermengen bedeuten würde. Denn aktuell steht Brasilien in der Reihe der größten Ölproduzenten gerade mal auf Platz 9.

Um ihr Ziel zu erreichen, betreibt die Regierung intensiven Neoextraktivismus – auch und gerade auf Gebieten, die von indigenen Bevölkerungsgruppen bewohnt werden. „In Brasilien leben etwa 1,7 Millionen Indigene“, sagt Biancka Arruda Miranda. „Das sind etwa 0,83 Prozent der Bevölkerung. Das scheint wenig. Aber sie spielen eine große Rolle.“

Auch, weil Indigene bedeutenden Widerstand gegen den Neoextraktivismus der Regierung leisten. Denn auch die Regierung Lulas beteilige sich an der Zerstörung der Natur. Beispielsweise über die „Versteigerung des Endes der Welt“: Bei diesem Projekt sollten zwei Prozent der Fläche Brasiliens versteigert werden – an Erdölkonzerne. „Die Versteigerung hat einen Tag nach der COP stattgefunden“, erzählte Miranda. „Aber es gibt starke Proteste dagegen.“ Auch und gerade von den indigenen Gruppen Brasiliens.

„Aktuell gibt es zudem eine große Kampagne, die bezweckt, dass sich auch Indigene für die Wahlen aufstellen lassen“, sagte Miranda. „Und auch gewählt werden.“ Zudem gebe es regelmäßige Demonstrationen und Proteste. „Es ist heute nicht mehr möglich, komplett an den indigenen Gruppen vorbei Politik zu machen. Das ist ein großer Gewinn.“

Auch für die Menschen in Europa könnten die Indigenen ein Beispiel sein. „Weil sie immer Widerstand geleistet haben.“ Und ihr Beispiel zeige: „Widerstand kann sich lohnen.“

 

9.) Kathrin Hartmann: „Green Capitalism“ und neue Widerstandsbewegungen am Beispiel der „Cancer Alley“ in den USA

Im Sommer 2023 ist Kathrin Hartmann in den USA gewesen, in Louisiana, wo entlang des Mississippi ie so genannte Cancer Alley verläuft.  Auf einer Länge von 130 Kilometern reihen sich 150 Raffinerien und petrochemische Fabriken aneinander. Das hängt auch mit grünen Schein-Lösungen zusammen. „Der Rettungsanker der Ölindustrie ist die Expansion in der Dünger- und Plastikindustrie“, sagte Hartmann. „Die Ölindustrie ist quicklebendig.“

Das Öl dafür werde unter durch die „Enhanced Oil Recovery“ (EOR) gewonnen. Dabei wird CO2  in Lagerstätten gepumpt. Dieses CO2 wird bei der Produktion abgespalten. Die Technologie nennt sich Carbon Capture and Storage (CCS) und gilt neuerdings als Maßnahme für den Klimaschutz. Gut für das Klima sei das aber nicht, erklärt Hartmann, denn der Großteil dieser CCS-Anwendung erfolgt zur Ölgewinnung. Ausgerechnet in einer Region, die sowieso schon so stark von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen ist.

Mit der Rechtfertigung, das CO2, das bei der Produktion entsteht, einzufangen, expandiert die fossile Industrie insbesondere an der Golfküste. Das heizt nicht nur das Klima an, sondern auch den Umweltrassismus: Auf ihrer Reise durch entlang der Cancer Alley, sagte Hartmann, habe sie verstanden, was es bedeute, in der Nähe solcher Chemiekonzerne zu wohnen. „Man hört dort Dinge wie ,Siehst du das Haus da hinten? Der Vater: Krebs. Die Tochter: Krebs. Die Mutter: Letztes Jahr an Krebs gestorben.‘ Und dann geht das von Haus zu Haus so weiter.“

Dürfen die das? In der Zonierung, erklärte Hartmann, werden die Gebiete an der Cancer Alley nicht als Wohngebiete ausgewiesen, sondern als reine Industriegebiete. Es sind hauptsächlich People Of Color, die in dieser Region leben. Früher arbeiteten hier versklavte Menschen auf den Zuckerrohrplantagen, auf denen heute die Chemiefabriken stehen. „Und heute wohnen dort die Kinder und Enkel der damals versklavten Menschen und werden von den Fabriken vergiftet“, sagte Hartmann.

Aber es gibt auch Widerstand: Zum Beispiel von Sharon Lavigne, die Hartmann auf ihrer Reise in die USA getroffen hat. „Sie sollte direkt vor ihre Haustür eine Plastikfabrik gestellt bekommen“, erzählte Hartmann. „Aber sie hat sich gewehrt.“ Erfolgreich: Sie gründete die Graswurzelbewegung Rise St. James, und so gelang es Lavigne und ihren Mitstreiter:innen, nachzuweisen, dass die Fabrik auf den Gräbern versklavter Menschen gebaut werden sollte. Der Bau wurde gestoppt.

Und auch sonst wehren sich immer mehr Menschen gegen die Industriegiganten in ihrer Nachbarschaft. „Viele der Gruppen sind Graswurzelinitiativen von Menschen, die selbst betroffen sind.“ So wehrt sich beispielsweise The Descendants Project gegen die Ölindustrie – und setzt sich mit einer Initiative dafür ein, Jobs außerhalb dieser Industrie in der Region zu schaffen.  Name: „Jobs that don´t stink.“

 

10.) Podiumsdiskussion am Abend

Bei der Veranstaltung im voll besetzten Saal des Münchner Eine-Welt-Hauses diskutierten vor etwa 70 Zuhörer:innen Aram Ziai, Nina Treu, Kathrin Hartman und Flávio Benites – moderiert von Aïda Roumer – über die verschiedenen Dimensionen von Arbeit, Ausbeutung, Ungleichheit und dem Kampf dagegen. Sie fassten zum einen ihre beim Workshop vorgetragenen Informationen und Thesen zusammen. Zum anderen bildete ihr Austausch auf dem Podium und mit dem Publikum den Rahmen ab, in dem sich der ganze Workshoptag bewegte.

Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem Verhältnis zwischen grundlegender Kapitalismuskritik und „utopischen“ Gegenentwürfen einerseits sowie praktischem, punktuellem Handeln unter den derzeit vorherrschenden Bedingungen andererseits. Auf der einen Seite standen Aram Ziais Schlussfolgerungen aus seiner Forschung oder Kathrin Hartmanns Grundsatzkritik am fossilen Kapitalismus, auf der anderen die Berichte und Analysen von Flávio Benites aus der praktischen Gewerkschaftsarbeit in einem profitorientierten Konzern und die von Nina Treu beschriebenen, praktischen Ansätze für Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsweise. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen Polen konnte zwar erwartungsgemäß nicht aufgelöst werden, wurde aber im Lauf der Diskussion anschaulich herausgearbeitet.